Usthemer Kerbtraditionen früher & heute

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„Groad suu wäi freuer, bluuß a wink annerscht“ 

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Die Kerb in den 30er Jahren. Die Kerbgesellschaft vor dem Gasthaus “Zum Adler” in der Schinnergasse.

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Die Kerbgesellschaft vor unserer ehemaligen Vereinsgaststätte Kohl in der früheren Hintergasse, heutige Sepp-Herberger-Staße.

Alljährlich begann bei uns in Ostheim am ersten Sonntag im September die Kirchweih. Früher wurde die sogenannte Kerb oder Kirchweih in den Wirtschaften/Gasthöfen, die es damals noch in großer Zahl in Ostheim gab, von Samstag bis Dienstag, irgendwann spät in der Nacht, gefeiert. Nach dem Kerbauftakt am Samstagabend und dem Kerbtanz am Sonntag zogen am Kerbmontag die Kerbburschen zusammen mit der Kerbkapelle durch den Ort und sammelten von wohlgesonnenen Bürgern Eier und Speck, die dann in der Wirtschaft verspeist wurden. Die Kerbburschen suchten die „Ustemer Kirb“. Das „Kerb suchen“ ist ein alter Ostheimer Kerb-Brauch ähnlich wie die „Kerb, den Kerb-Burschen oder die Kerb-Liesel beerdigen“, wie man das aus anderen Orten kennt. Vergleichbare Tradition ist z.B. das Schubkarren-Rennen in Roßdorf, der Gickelschlag in Rodenbach oder der Bachtanz in Langenselbold.

Am Kerbdienstag wurde die Kerb in Form einer Flasche Schnaps oder Wein irgendwo in Haus und Hof einer Familie, die selbst nichts wusste, versteckt. Nur ganz wenige Personen waren eingeweiht. Dann war die Kerbgesellschaft, die oft mit Pferdegespann und „Laarewoache“ (Leiterwagen) unterwegs war, aufgefordert die Kerb zu suchen. Bei jedem Halt wurde vom „Kerbbürgermeister“ ein kurze und blödsinnige Rede gehalten, die am Ende regelmäßig mit dem Gebrüll begrüßt endete, sich in dem benannten Haus nach der Kerb umzusehen. Ein Ritual dabei war das Messen durch den Messgehilfen, der die ca. 3 m lange Messlatte schwang und mit lautstarker Unterstützung der Anwesenden zählte. Von ihm wurden die gemessen Meter an den Protokoller weiter gegeben. Klar, dass man oft nichts fand. Zum Trost, so schrieb es der alte Brauch vor, hatte die Kerbgesellschaft von der Hausfrau Speck, Wurst, Eier oder Getränke bekommen. Dieser Vorgang wiederholte sich bei jedem Anwesen, bei dem gesucht wurde, solange bis die Kerb gefunden war. Dabei ging es mitunter sehr feucht-fröhlich zu. Es kam durchaus vor, dass ein Keller „geplündert“ und ausgeräumt wurde, der Vorrat an Wein, Schnaps und selbstgemachtem Apfelwein verlustig ging. Die Kerbgaben wurden in einem mitgeführten Handwagen verstaut worden und am Ende der langen Suche, nachdem die Kerb gefunden wurde im Gasthaus ausgebreitet und noch am gleichen Tag verzehrt worden. Wer von den Heimgesuchten das Kerbgeschenk verweigerte, auch das soll vereinzelt vorgekommen sein, mit dem sei allerhand Schabernack getrieben worden: Holzstapel wurden auseinander gerissen, die Kuh im Stall abgebunden, Leiterwagen auf die Straße geschoben und so manches Hoftor wurde ausgehängt. Materielle Schäden hat dabei aber niemand in all den Jahren erlitten. 

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Ausnahmezustand. Die Kerb in den 50er Jahren. Das ganze Dorf ist auf den Beinen. Die Kerb wird bei Familie Stein/Kittel in der ehemaligen Hintergasse 1, heutige Sepp-Herberger-Straße, gesucht.

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Beim Suchen der Kerb durfte der „Laarewoache voll met schiene Määrechen“ (Leiterwagen voller schöner Mädchen) nicht fehlen.

Wann und wie diese alte Ostheimer Tradition seinen Ursprung hatte ist nicht überliefert. 1947 lebte sie jedenfalls bei der ersten Ostheimer Nachkriegskerb wieder auf. Die Kerb war im Elternhaus von FCO-Urgestein Hans Uhrig in der Hanauerstraße 10 versteckt und wurde unter dem Jubel der Kerbgemeinde auch gefunden. Auf der Straße war kein Durchkommen mehr, die Kapelle saß im Hof auf der Mistkaute (Misthaufen), die Stimmung war unbeschreiblich. 1950_www

Bis weit in die 60er Jahre waren die Kerbtage hohe Dorffeiertage. Die Geschäfte in Ostheim blieben nachmittags geschlossen, wer angestellt arbeitete, nahm sich Urlaub, selbst die Arbeit auf den Feldern ruhte. Verwandte und Bekannte von außerhalb wurden erwartet. „Riwwelkouche“ (Streuselkuchen) und unser Ustemer Original, der „Mattekouche“ wurden zu Hause auf großen Blechen und beim Bäcker quadratmeterweise gebacken. Die Ostheimer Gaststätten waren „gerüstet“. Schon immer nutzten die Ostheimer Vereine die Kerb um fröhlichen Zusammenhalt zu zeigen. Beim Umtrunk geschah dann so mancherlei Unfug. Man trank, sang und redete. Auf den harten Holzbänken sich drängelnd fand man schnell zueinander. Alle fühlten sich wohl: Der Landwirt, der Metzgermeister, der Schäfer, der Arbeiter, der Apotheker, der welterfahrene Künstler usw. sogar unser Bürgermeister lies Amtstsunden Amtsstunden sein. Es zog niemanden nach Hause. Alle hatten Ausgang. Zur Kerb war immer etwas los bei uns. Spaß wurde nicht geplant, er wuchs zufällig aus dem Augenblick. Unvergessen die Auftritte unseres Festweltmeisters „Pipp“ mit seinen Pantomimen-Boxkämpfen, die noch heute Freudentränen in die Augen von Augenzeugen treiben. 

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Die Kerb Anfang der 70er Jahre. Der Ustemer Festweltmeister Piepe wird unter dem Gejohle der Menge standesgemäß mit einem Oldtimer auf die Bühne im Festzelt gebracht. Das Volk tobt und steht auf den Bänken.

Als unser Dorf sich Mitte der 70er mehr und mehr nach außen öffnete, unser Ustem seine Unabhänigkeit 1974 verlor, verlor auch die Kerb selbst für die Ureinwohner mehr und mehr an Bedeutung. In den Jahren danach gab es die eine oder andere Veränderung. Der Grund für die Kerbflucht? Uralte Dorfrituale galten nicht nur bei der Jugend als rückschrittlich.

Anfang der 80er Jahre läutete man den Umschwung ein. Man besann sich wieder auf unsere alten Traditionen. Es geschah an einem Kerb-Dienstag, der bis dahin höchste Kerb-Feiertag versprach ein warmer Spätsommertag zu werden. Man saß zusammen „In der schönen Aussicht“ und trank, es wurde gesungen und selbst der Laie spürte, dass man nicht bierselig grölte, sondern noch im leichten und schweren Nebel auf Reinheit achtete. Als der Liederzyklus verklang, schallte eine helle Stimme: „Alle mal herhören! Leute! Jetzt suchen wir die Kerb!“ An Singen war nicht mehr zu denken. „Dou oarmer Wiche“, sprach ein altes Ostheimer Urviech, „Doas konnt mer freuer mache. Doch haut bei dem Verkehr näit mieh!“ Es gab kein Halten mehr. Die Kerb musste gesucht werden. So mancher ahnte nicht was geschah. Man war einiges gewohnt, aber diese Vorgänge, in harten Ustemer Mundart ausgekocht, blieben doch für so manchen unverständlich. Ein alter Brauch wurde wieder belebt war die einfache Erklärung für alle Zurückgebliebenen: Das Kerbsuchen. Beinahe hätte das königliche Zechen böse geendet. Beim Umzug durch die Straßen mit Traktor und Anhänger kam zu einem Unfall bei dem ein Kind angefahren wurde. Ausgezogen war man mit dem löblichen Vorsatz, dem Dorf die Kerb wieder zu gewinnen und die Vergangenheit zurück zu holen, es war alles anders gekommen. Die Kerb war gehalten! Noch Wochen nach diesem Unfall hörte man die wildesten Gerüchte über die Verletzungen des Jungen. Genesen von seinen Verletzungen, spielte der Junge glücklicherweise bereits schon wieder Fußball. Die Straßenkerb schien damit beendet. Die Kerb blieb danach sozusagen unter sich in den Gaststuben.

Mitte der 90er besann man sich wieder auf unsere alte Tradition, die Zeltkerb hatte sich etabliert und dauerte von Freitag bis Montag. Die Veranstalter „Würfelclub“ und „Traktoria“ unternahmen einen neuen Anlauf. Mitinitiatoren waren bekannte FCO-ler wie Wilfried Levy, Gerhard Brodt, Werner Altvater, Gerd Schwing und Heinz Thomas. Die Kerb wurde am Kerbmontag beim Weckruf mit der Kerbkapelle vor Beginn des Frühschoppens gesucht. In der Folgezeit nahm der FCO diese Vorlage dankbar auf. Das Kerbsuchen der FCO-Kerbburschen am Kerbmontag zusammen mit dem Weckruf gehört seither zum festen Bestandteil eines Kerbprogrammes. Inzwischen werden auch wieder Eier und Speck gesammelt, die anschließend im Zelt in eine große Pfanne wandern und sich die Kerbburschen unter freundlicher Mithilfe der Kerbkapelle schmecken lassen. Beliebteste Anlaufstationen bei der Suche sind seither vor allem die Ostheimer Metzgereien Frank Barget in der Hanauer Straße, Volker Jost in der Eisenbahnstraße und Reiner Jost in der Sepp-Herberger-Straße sowie die Bäckerei Klaus Brückner in der Limesstraße. An dieser Stelle nochmals vielen Dank für deren Unterstützung.

Festumzug „1150 Jahre Ostheim“ im Jahr 2000. Die Kerbburschen beim Suchen der Kerb. Vorne der „Messgehilfe“ mit der 3m-Latte. In der Bildmitte mit Zylinder der „Kerbbürgermeister“.

Im Rahmen der Ostheimer 1150-Jahr-Feier im Jahr 2000 stellte der FCO diese alte Ostheimer Kerb-Tradition beim großen Jubiläums-Umzug dar. Neben Kleidung und anderer Utensilien aus alter Zeit durften die Kerbburschen beim Suchen der Kerb und natürlich der „Laarewoache voll met schiene Määrechen“ (Leiterwagen voller schöner Mädchen) nicht fehlen.